Fernanda Melchor (cc)
VERACRUZ SCHREIBT MAN MIT Z (Fernanda Melchor) gelesen von Irmi Horn, musikalisch begleitet von Eva Jiménez
Eva Jiménez – 1959 geboren, absolvierte zahlreiche Aus- und Weiterbildungen am Konservatorium und der Musikuniversität Graz, bei Seminaren und privat. Die musikalische Ausrichtung ist Jazz, Latin Jazz, Tango Nuevo. Sie komponiert seit 2001 und schreibt neben Lead Sheets auch Arrangements.
Ihre Musik spielt sie selbst meist am Bandoneon oder Klavier, am liebsten zusammen mit anderen Instrumenten/Musiker:innen, z. B. tevango.at. Ihre besondere Vorliebe gilt der (freien) Improvisation.
Irmi Horn, geb. 4. Juli 1945, lebt nach Studium und Lehrtätigkeit, Arbeit an verschiedenen Theatern und in der freien Szene als Dramatikerin, Regisseurin, Schauspielerin, Kuratorin und künstlerische Leiterin von kunstGarten in Graz.
Fernanda Melchor
Fernanda Melchor, 1982 in Veracruz/Mexiko geboren, gehört zu den wichtigsten Autorinnen Lateinamerikas. Für ihren Roman »Saison der Wirbelstürme« erhielt sie 2019 den Anna-Seghers-Preis sowie den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt. Zudem stand sie auf der Shortlist des International Booker Prize. Als Journalistin in Veracruz schrieb sie »Crónicas«, eine einzigartige lateinamerikanische Mischform aus subjektiver Reportage, Investigativjournalismus und Fiktion – diese Crónicas gingen in Melchors Erzähldebüt »Das hier ist nicht Miami« (2013) ein. Das Besondere dieses Debüts ist jedoch weniger die komplexe Schilderung miserabler Lebensbedingungen von jungen Menschen am Rand der Gesellschaft als vielmehr der besondere sprachliche Ausdruck, mit dem Melchor einen hyperrealistischen Erzählraum erschafft.
Die Schriftstellerin Fernanda Melchor, geboren 1982, stammt aus dem mexikanischen Bundesstaat Veracruz. Als die studierte Journalistin einen Mordfall in der mexikanischen Provinz nicht recherchieren wollte, um sich in einer von Drogenproduzenten beherrschten Region nicht selbst zu gefährden, wurde aus dieser Vorsicht einer der erstaunlichsten Romane der neuesten Gegenwartsliteratur. Er heißt Saison der Wirbelstürme.
Dieser Roman – ihr dritter – spielt im fiktiven Dorf La Matosa in der Nähe von Veracruz. Dort gibt es eine Hexe, auf die die DorfbewohnerInnen ihre Ängste und Hoffnungen projizieren – bis sie ermordet aufgefunden wird. Die Handlung spielt im 21. Jahrhundert, in einer archaischen Welt, wie sie die Entstehung der Stoa befördert haben muss, die Hoffnung auf Freiheit von Leidenschaften, auf Gelassenheit als Grundlage der Kultur. Alle Gefühle, alle Affekte sind gleich heftig, die Liebe ist heftig, die Angst ist heftig, die Mordlust ist heftig, und die Angst hilft der Liebe, in Mordlust umzuschlagen. Die Romanfiguren sind ihren Gefühlen ausgeliefert wie dem Wetter, sie arbeiten sich durch sie hindurch, sie wollen fort, ihrem Dorf entkommen, sich selbst entkommen. Sie humpeln ihren Trieben hinterher, wollen nicht dorthin, wo die Triebe schon sind, und müssen es doch, und sie hinterlassen dabei eine Spur der Verwüstung.
Fernanda Melchors Romanfiguren haben keinen Zugang zu Kultur, zu Bildung, keinen Zugang zu dem Geld, das ihnen beides verschaffen könnte. Sie haben keine Möglichkeit, sich zu befreien und in Würde zu leben. Und: Es ist eine weit entwickelte, hoch komplizierte Zivilisation, die die Menschen in diesen vorzivilisatorischen Zustand zurückgestoßen hat und sie dort gefangen hält. Es sind – eher zufällig – Zentrifugalkräfte der globalen Ölindustrie, denen die Romanfiguren in ihrem Dorf ausgesetzt sind. Und die Weltmärkte sind nicht darauf angewiesen, dass die Menschen, die sie verbrauchen, Kultur haben. Sie sind nicht darauf angewiesen, dass die Menschen, die sie verbrauchen, nicht verrecken. Und sie halten sich dabei selbst für hoch kultiviert. Diese kultivierte Welt kommt hier nicht vor. Die Wirklichkeit, die Fernanda Melchor für uns fasst, ist eine der Armut und gnadenlosen Ausbeutung.
Fernanda Melchor hat beschlossen, zum Selbstschutz reale Begebenheiten zu fiktionalisieren. Sie hat dafür eine eigene Sprache gefunden, die eines poetisch fast unerträglich verdichteten Hyperrealismus. Der Roman beschreibt nicht weniger als eine Hölle auf Erden unserer Zeit. Er bekräftigt aufs Neue die Notwendigkeit von Literatur – als Mittel, eine Wirklichkeit, die sich notfalls mit Gewalt dagegen wehrt, beschrieben zu werden, als künstliche Wirklichkeit doch noch zu fassen zu bekommen. Freiheit bedeutet, etwas in Sprache fassen zu können. Verbrechen in Sprache fassen zu können, ist ein Sieg der Kultur über das Verbrechen.
Schon in ihrem Geschichtenband Aquà no es Miami (2013) erzählt Fernanda Melchor aus der Perspektive einer Überlebenden von menschlicher Erniedrigung in allen Schattierungen und auch ihr jüngstes Buch Páradais(2021) verhandelt anhand von zwei jugendlichen Outcasts, die sich nachts in einem Nobelviertel treffen, um ein makabres Spiel zu spielen, eine Gewalt, die nahezu zwangsläufig aus der Kollision ungleicher Welten resultiert.
https://www.berliner-kuenstlerprogramm.de/de/artist/fernanda-melchor/