Bis heute ist Virginia Woolf, im Vergleich zu ihren männlichen Zeitgenossen unterschätzt, doch zweifellos gehört sie zu den wenigen Schriftstellern, die dem Schreiben neue Sphären eröffneten – in ihrer Wirkung vergleichbar mit einem literarischen Revolutionär wie James Joyce.Exemplarisch kommt diese Innovationskraft in der Kurzgeschichte ›Ein ungeschriebener Roman‹ (1920 London Mercury ) zum Ausdruck: Die Erzählerin, im Zug sitzend, eine fremde Frau beobachtend, erforscht deren Gesicht, und imaginiert ein Schicksal, eine Geschichte, so wie sie sein könnte. Nein, wie sie sein muss, wie sie der Autorin aus dem Blick, dem Gesichtsausdruck der Frau geradezu entgegen springt.Â
Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Als Kind wurde sie sexuell missbraucht, wohl von einem ihrer Halbbrüder. Als sie 13 Jahre alt war, starb ihre Mutter, was einen ersten psychischen Zusammenbruch auslöste. Den nächsten erlebte sie 1904 nach dem Tod des Vaters. Die Stephen-Geschwister zogen im Jahr 1905 von Kensington in den Stadtteil Bloomsbury in das Haus am Gordon Square 46. Hier begann Thoby Stephen, den Donnerstag als Jour fixe für eine Zusammenkunft mit seinen Freunden zu etablieren. Mit diesem Brauch war der Grundstein der Bloomsbury Group gelegt, der zum Teil aus Mitgliedern der Cambridge Apostles bestand, das war eine elitäre intellektuelle Geheimgesellschaft an der Universität Cambridge, die 1820 von George Tomlinson nach dem Vorbild einer Freimaurerloge gegründet wurde. Zu diesem Zirkel gehörten neben Virginia Literaten wie Saxon Sydney-Turner, David Herbert Lawrence, Lytton Strachey, Leonard Woolf, Maler wie Mark Gertler, Duncan Grant, Roger Fry und Virginias Schwester Vanessa, Kritiker wie Clive Bell und Desmond MacCarthy sowie Wissenschaftler wie John Maynard Keynes und Bertrand Russell. Virginia war dankbar, in diesem intellektuellen Kreis – Vanessa und sie waren neben Mary MacCarthy die einzigen Frauen – in Diskussionen mitwirken und sich aus den moralischen Fesseln ihrer Erziehung befreien zu können. Im selben Jahr begann Virginia für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften zu schreiben.
Den dritten psychischen Zusammenbruch erlebte sie 1912 nach dem Heiratsantrag des Literaturkritikers Leonard Sidney Woolf. Noch im selben Jahr heiratete sie ihn, einen Monat später versuchte sie, sich das Leben zu nehmen. Der Selbstmordversuch scheiterte. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The 1 Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust. Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.Â